Fiction (Japan): Sayaka Murata, Die Ladenhüterin/Film (Deutschland): In den Gängen

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„Unablässig erklang in mir die Stimme des Konbini. Seine Wünsche und Bedürfnisse durchströmten mich. Nicht ich sprach, sondern der Konbini sprach aus mir. Ich gab lediglich seine Offenbarung weiter.“

Die Ladenhüterin, Berlin 2018, S. 142

Ich hatte Durststrecken, weil die Begrenztheit der Erzählerin anstrengt, fand es aber perfekt gemacht und auf seine Art horizont-erweiternd.

In „Die Ladenhüterin“ wird die Geschichte der jungen Keiko Furukura erzählt, die als Beschäftigte in einem japanischen Minimarkt (Kombini) ihre Bestimmung findet. Ein Roman für den internationalen Literaturkanon. Er bildet einen Mikrokosmos im zeitgenössisches Japan ab und macht die Psyche einer teilweise gefühlsblinden, zugleich aber sensiblen und autistischen Persönlichkeit erfahrbar.

Im übergeordneten Sinn ist Sayaka Muratas preisgekrönter Roman eine Nahaufnahme der heutigen gewinnorientiert durchgetakteten, zutiefst prägenden Arbeits- und Konsumwelt der reichen Länder. Ein Stück Keiko steckt in allen von uns, wenn wir an unserem Arbeitsplatz sind.

Das Buch lässt sich sehr schön im Zusammenhang mit Hermann Melvilles Erzählung „Bartleby, The Scriverner“ (USA) und mit Amelie Nothombs Roman „Mit Staunen und Zittern“ (BEL) lesen.

Ergänzung 4.6.2018: Eine wunderbare Erweiterung des Themas, diesmal mit dem deutschem Mikrokosmos eines Großmarkts: der Film “In den Gängen” von der Biennale 2018.

 

 

Buchtipp (Frankreich): Karine Tuil, Die Zeit der Ruhelosen

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„Die Hölle von Afghanistan. Du bist überwältigt von der Natur, ihrer Vielfalt, den versteckten Höhlen, der Schroffheit, alldem, womit dein Feind bestens zurechtkommt und was du dir erst vertraut machen musst, denn er kennt die Gegend besser, als du sie je kennenlernen wirst ­– das weite, von Schluchten durchzogene, hügelige Terrain mit den kreideweißen Gipfeln des Hindukusch im Hintergrund, die sternenklaren Nächte, diese Postkartenlandschaft.“

Berlin 2017, Seite 17

„Die Zeit der Ruhelosen“ von der französischen Autorin Karine Tuil ist ein prima Thriller. Ich habe das Buch fasziniert und atemlos gelesen, mit Erkenntnisgewinn. Vor allen die Szenen, in denen die drei männlichen Hauptpersonen in der unbegreiflichen Realtiät der Gewalt, des Krieges, der Gefangenenschaft und der Folter existieren. Karine Tuil schreibt hart, schnell, gnadenlos, journalitisch. Dass sich ein Rezensent bei der Lektüre gelangweilt hat (siehe Kritiken im Perlentaucher), verstehe ich nicht.

Lesetipp (Simbabwe): Petina Gappah, Die Farben des Nachtfalters/The Book of Memory

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Foto: Yves Picq, Wiki Commons – Palisander in Harare, Simbabwe

„Noch während ich diesen nachsichtigen Stamm mit Hohn und Spott überschütte, frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn meine eigene kleine Dorfgemeinde, alle Leute, die ich je gekannt habe, um mich herumstünden und mir Vergebung schenkten.

Zürich, Arche, 2016, S. 251 f

44931358zKann die Geschichte einer Frau, die (in diesem Fall in Simbabwe) im Gefängnis sitzt und zum Tode verurteilt ist, bereichern, ja mitunter fröhlich machen? Kann sie, wenn sie von Petina Gappah geschrieben wurde.

Wunderbar für Herz und Verstand, locker zu lesen, wenn man mag, aber auch mit jeder Menge Stoff zum Nach- und Weiterdenken – über die Art und Weise, wie Erinnerung funktioniert, über Macht in Institutionen, über die Konstruktion von Wirklichkeit, über das Universelle in  Mythologien, über das Ausgeliefert-Sein von Kindern, über Schuld, über Vergebung und alles andere, was ihr selbst hineinlesen könnt und wollt.

Leseprobe

 

 

 

 

 

 

Arundhati Roi (Indien), Ministry of Utmost Happiness (Ministerium des äußersten Glücks)

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Arundhati Roi, das Foto stammt von hier.

“And yet, the burden … had lightened somewhat. Not because she loved [and missed] him any less, but because the battered angels in the graveyard that kept watch over their battered charges held open the doors between worlds (illegally, just a crack), so that the souls of the present and the departed could mingle, like guests at the same party.”

Roi, Arundhati, The Ministry of utmost Happiness, Hamish Hamilton, UK 2017, page 198

u1_978-3-10-002534-0.63362368Auf diesen zweiten Roman der preisgekrönten indischen Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Arundhati Roi (Autorin von Der Gott der kleinen Dinge) habe ich (zusammen mit vielen anderen) lang gewartet.  The Ministry of utmost Happiness (hier die Handlung) ist nicht immer einfach zu lesen, aber sehr poetisch, bereichernd und transzendent. Bitte nicht wundern, wenn in Kapitel 3 ein ganz neuer, scheinbar unzusammenhängender Handlungsstrang aufgemacht wird, alles wird am Ende zusammengeführt.

Lesetipp (USA/Nigeria): Nnedi Okorafor, Lagoon/Lagune

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Das Cover dieser deutschen Ausgabe wurde von dem Illustrator Greg Ruth gestaltet.

Let me tell you something – that woman, she was from outside this earth, yes. But that thing, that thing that was haunting the road, it was from here and had probably been here since these roads were built, maybe even before then.

Cross Cult, Ludwigsburg, 2016

Ich bin auf etwas sehr Spannendes gestoßen, nämlich den sogenannten Afrofuturismus, eine Art Sci-Fi-Fantasy von Autorinnen und Autoren mit afrikanischen Ahnen. Eine Pionierin dieser Literarturrichtung war Octavia Butler. Ganz neu und sehr kraftvoll führt die Autorin Nnedi Okorafor das Genre mit dem Roman Lagune weiter.

Die Geschichte: Außerirdische stranden in der Bucht von Nigerias Hauptstadt Lagos. Eine Meeresbiologin, ein Rapper und ein Soldat werden zu Botschaftern dieser Wesen, die sich (und alles andere) in alles verwandeln können. Einige Krieger, die sie angreifen, werden zum Beispiel molekular zu Bäumen gemacht.

Echt spannend und sehr anders! Was mich besonders fasziniert hat, war die Art und Weise, wie Nnedi Okorafor die Wissenschaft und alte nigerianische Mythen in die Geschichte hineinwebt und dem Text damit literarische Tiefe gibt. Auch für Nicht-Science-Fiction-Fans!

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Lesetipp (Israel): Ayelet Gundar-Goshen, Löwen wecken

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Der Roman spielt in Be’er-Sheva, Israel, hier eine Straße aus dem Umland. Foto: Wiki Commons

Wenn ich bis zu diesem Tag des Jahres nur ein Buch aus meiner diesjährigen Lektüre 908aaaf11825c56af93c49070920563bempfehlen dürfte, dann wäre es Löwen wecken von der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen. Ein israelischer Arzt überfährt in der Wüste um Be’er-Sheva  in Israel einen eritreischen Flüchtling  und begeht Fahrerflucht. Am nächsten Tag steht die Witwe des Überfahrenen vor ihm, ihm war am Unfallort sein Pass aus der Tasche gefallen.

Aus dieser Begebenheit entwickelt sich eine ungeheuerliche Geschichte, in der man mit so ziemlich allen existentiellen Fragen des Lebens konfrontiert wird. Besonders gut fand ich: Die Ehrlichkeit, mit der die Erzählerin die schier unüberwindliche Fremdheit aufzeigt, die man gegenüber Menschen empfindet, die nicht aus dem eigenen Kulturkreis stammen. Eine geschmeidige Sprache, eine große Tiefe der Charaktere, die sich in der Geschichte weiterentwickeln. Ja, lesen!

Leseprobe (auf der Seite nach unten scrollen)

 

 

Buchtipp für den Leseurlaub (Deutschland): Olga Grjasnowa, Gott ist nicht schüchtern

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Das antike Haus des Sankt Ananias im alten Christenviertel von Damaskus, das Foto ist von hier.

„Die Stadt ist inzwischen komplett zerstört: Der Asphalt ist verschwunden, genau wie die Einwohner. […] Zum ersten Mal wird ihm [Hammoudi in deir az-Zour] bewusst, aus wie vielen Tonnen Stein eine Stadt besteht. Die Wände zwischen den Häusern sind herausgeschlagen, damit die Einwohner nicht auf die Straße gehen müssen, sondern sich von Haus zu Haus bewegen können. […] Hammoudi wird von einem Kämpfer angehalten. […] Der Kämpfer trägt dem Jungen auf, Hammoudi zu  begleiten. Hammoudi sagt: „Ich bin hier geboren, ich kenne mich aus.“ Der Junge grinst. „Überall sind Scharfschützen. Du wirst alleine nicht weit kommen.“

Aufbau Verlag, Berlin, 2017/2, S. 187 f

„Das Boot wird mit fünfzig Menschen beladen, obwohl es eigentlich für acht konstruiert worden war.  […] Der Schmuggler zeigt sich unbeeindruckt und hebt mit nachsichtiger Überlegenheit sein Schnellfeuergewehr HK33, deutsches Fabrikat, Heckler & Koch.“

S.260 f

Gottist nicht„Gott ist nicht schüchtern“ von Olga Grjasnowa ist nichts für Leute, die im Urlaub Beschaulichkeit suchen. Eher für solche, die die Zeit nutzen möchten, sich politisch auf einen besseren Stand zu bringen.

In dem Roman werden die Wege eines jungen Syrers (Hammoudi) und einer jungen Syrerin (Amal) vom Frieden in den Krieg und die Flucht nachgezeichnet. Mich hat das Buch vor allem deshalb interessiert, weil Olga Grjasnowas Ehemann aus Syrien stammt und sie die (zerstörte) Lebenswelt von dort sicher gut kennt.

Das Buch ist, finde ich, erstklassig geschrieben –  kurz, in einem guten Tempo, sinnlich, unerschütterlich, nie sentimental.

Das luxuriöse Leben der weiblichen Protagonistin Amal hätte meines Erachtens allerdings nicht gar so ausgeschmückt werden müssen – vor allem deshalb nicht, weil Amal die ideale Identifikationsfigur hätte sein können, anhand der man den Verlust der Selbstverständlichkeit nacherlebt. Schön hätte ich es außerdem gefunden, wenn man die verschiedenen Kriegsparteien in Syrien mit dieser Lektüre hätte nachvollziehen können. Das muss man sich dann aber doch selbst ergoogeln.

Ansonsten sehr berührend, wichtig, erhellend, empfehlenswert.

 

Buchtipp für den Lese-Urlaub (JPN): Gail Tsukiyama, Der Garten des Samurai

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Eine Komposition aus dem alten japanischen Garten Ryoan-ji (15. Jahrhundert), Foto und Erklärungen dazu hier.

„Es kam mir vor wie ein Traum, dass wir monatelang gearbeitet hatten und dass sich der vollendete Garten nun vor uns ausbreitete. In diesem Augenblick erwachte er zum Leben. Auf einmal hörte ich das Wasser fließen und sah, wie sich der Strom der Steine sanft kräuselte. Doch vor allem genoss ich die Vorstellung, dass seine Schönheit etwas war, das mir keine Krankheit, kein Mensch nehmen konnte.“

Lübbe, Bergisch-Gladbach, 200/2, S. 223

51KQAQ5C4WL._SX334_BO1,204,203,200_Der Garten des Samurai von Gail Tsukiyama ist das Richtige, wenn man sich selbst in ein ruhigeres Tempo bringen möchte und geistige Klarheit ohne allzuviel Metaphysik sucht.

Der Tagebuch-Roman handelt von einem jungen, tuberkulosekranken Chinesen, der von Herbst 1937 bis Herbst 1938 in dem Strandhaus seines Vaters in Japan Erholung sucht und von dem stillen Matsu versorgt wird.

Nur am Rande bekommt man mit, dass die Japaner gerade in China Krieg führen und schreckliche Massaker begehen (drastisch beschrieben in Mo Hayders fast unerträglichem Thriller “Tokio“) In der Nähe des Strandhauses ist eine Kolonie verstoßener Leprakranker, und dort lebt Sachi, die trotz ihrer Narben nichts an Schönheit eingebüßt hat.

In dem Buch spielen unter anderem zwei japanische Gärten, der komplizierte Ehrbegriff des traditionellen Japans, zwei Dreiecksbeziehungen und der Verlust von Schönheit und Sicherheit eine Rolle. Wie die Gärten selbst werden diese  Themen auf scheinbar einfache Art mehrfach gespiegelt, kontrastiert, entfaltet, symbolisiert.

Mir gefällt es besonders, wie die Erzählerin verschiedene Konzepte von innerer und äußerer Schönheit verhandelt. Sie hat mich tatsächlich dazu gebracht, menschliche Gesichter neu zu sehen. Für die Langsamkeit und Behutsamkeit dieses Buches braucht man aber schon auch Geduld.

Das Buch kam übrigens per Bookcrossing zu mir, ich fand es in einem öffentlichen Buchregal.

Buchtipp (AU): Favel Parrett, Jenseits der Untiefen

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Ende letzten Jahres hat Favel Parrett ihren Arbeitstisch für ein neues Buchprojekt knallpink gestrichen. Das Foto ist von hier.

„Miles und Harry waren so lange wie möglich draußen geblieben, bis weit nach Mitternacht, sie waren so lange draußen geblieben, bis sie durchgefroren waren, weil Jeff und Dad seit zwei Tagen tranken. Jetzt waren sie zurück in ihrem Zimmer, und Harry musste dringend aufs Klo. „Kletter einfach durchs Fenster“, flüsterte Miles. „Ich kann nicht.“ … „Aber dann musst du durchs Wohnzimmer.““

München/Berlin 2015, Seite 128

produkt-10481Wieder ein Buch, das uns daran erinnert, dass wir die Kinder in unserer Umgebung im Blick haben sollten. Direkt, poetisch, kurz, packend: „Jenseits der Untiefen“ von der tasmanischen Autorin Favel Parrett über drei Jungen, die allein mit ihrem trinkenden Vater leben müssen.

Es gibt mehrere nahezu unerträglichen Stellen im Buch, der Anfang von einer davon steht oben im Zitat. Eine Geschichte, die einem bleibt.

Es gibt aber auch ergreifend schöne wilde Szenen, vor allem, wenn die Jungen surfen gehen.